- japanisches Wohnhaus und japanischer Garten: Die Ästhetik des Raums
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Das wesentliche Merkmal der japanischen Wohnarchitektur ist der Ständerbau, der keine tragenden Wände kennt und die Struktur seiner Bauglieder offen legt. Das Baumaterial besteht aus Holz, Lehm und Papier, die gern in ihrem natürlichem Zustand belassen werden. Der Grundriss ist oft asymmetrisch und erlaubt die Zusammenstellung von Wohnräumen zu variablen Raumeinheiten. Da sich die Schiebewände leicht entfernen lassen, ist die Grenze zwischen Innenraum und Garten fließend. Der Wohnraum wird als eine zerbrechliche, sich ständig wandelnde Umwelt erfahren. Diese Merkmale sind das Ergebnis einer ins Mittelalter zurückreichenden Entwicklung.In den Palastbauten der Hofaristokratie bahnte sich im 11. Jahrhundert die Entstehung eines spezifisch japanischen Wohnstils an. Zwar sind keine Denkmäler erhalten, aber aus der Romanliteratur und den Illustrationen der mittelalterlichen Bildrollen lassen sich die architektonischen Neuerungen rekonstruieren. Im Zentrum des aristokratischen Palais stand der weitläufige, einstöckige Ständerbau der »Schlafhalle« (»shinden«), die von zwei seitlichen Gebäuden (»tainoya«) gerahmt wurde. Korridore führten von dort im rechten Winkel zu zwei kleineren Hallen rechts und links eines Gartenteiches. Die Böden bestanden aus polierten Holzplanken; durch dicke Strohmatten, Stellschirme und Vorhänge wurden in den Räumen temporär intime Bereiche geschaffen. Zwischen die runden Außenpfeiler waren vergitterte Türen eingelassen, die hochgeklappt oder ganz entfernt werden konnten. Alle Gebäude blickten nach Süden auf den Garten, dessen Teich von einem kleinen, unter den Galerien hindurchfließenden Bach gespeist wurde. Elegante Brücken führten zu einer Insel, bizarre Gartensteine und geschnittene Büsche gaben dem Garten ein chinesisches Aussehen. Das Eingangstor befand sich nun nicht mehr wie beim Kaiserpalast im Süden, sondern seitlich im Osten oder Norden der ummauerten Anlage. Die Einheit von Wohnpalais und Garten, für die heute noch die Amida-Halle des Byōdōin-Tempels bei Uji zeugt, aber auch die Fassadenlosigkeit des sich nach innen anstatt nach außen entfaltenden Wohnpalais sollte in der Zukunft nicht mehr aufgegeben werden.In den schlichteren Anwesen des Kriegeradels (»buke«) wurde seit dem 13. Jahrhundert die Symmetrie des »Shinden«-Palais durch die beliebige Anordnung übers Eck gestellter oder hintereinander gestaffelter Holzbauten (»buke-zukuri«) auf quadratischen Pfeilern abgelöst. Auch kleinere Räume wurden jetzt durch Schiebewände (»fusuma«) abgeteilt. Sie erhalten Licht von den auf die Veranda führenden Schiebetüren (»shōji«), die mit weißem, lichtdurchlässigem Papier bespannt sind. Der vornehmste Raum ist in der ganzen Fläche mit dicken, etwa ein auf zwei Meter großen Tatami-Strohmatten, bedeckt, die das Betreten mit Schuhen verbieten. Der Garten, an dessen Teich meist nur noch ein Pavillon steht, befindet sich im hinteren, der Familie vorbehaltenen Wohnbereich.Eine innenarchitektonisch wichtige Neuerung brachte die Einrichtung der Abtquartiere in den seit dem 13. Jahrhundert aufblühenden Zen-Klöstern. Der Wohnraum des Priesters erhält mit dem Schreibraum (»shoin«) einen festen Anbau. Dieses Studio besteht aus einem zu Veranda und Garten geöffneten Erker mit einem Fenster, dessen Sims zum Schreiben und Lesen dient. Hinzu kommen Bücherborde (»todana«), Einbauschränke und ein schmaler Alkoven (»tokonoma«) für die Bildrolle und das Blumengesteck (»ikebana«). Dem Abtquartier vorgelagert sind »trockene Gärten« (»kare-sansui«), die nicht betreten, sondern nur betrachtet werden sollen. Die Proportionen der Gartensteine, die kunstvoll gerechten Sandflächen und geschnittenen Hecken und Büsche in diesen Meditationsgärten täuschen oft eine Raumtiefe vor, die die wahren Dimensionen vergrößert und dem Haus einen kosmischen Rahmen gibt. Die Kargheit der Vegetation suggeriert, dass sich die Behausung in der wilden Natur abseits der Städte befindet. Meist endet der Blickraum an den Mauern des Klosterbezirks, zuweilen wird aber auch das außerhalb liegende Landschaftspanorama in die Gartenkomposition miteinbezogen.Im 15. Jahrhundert übernahm auch der Adel den Studio-Wohnstil der Zen-Klöster. Ein frühes Beispiel ist der »Silberne Pavillon« des Shōgun Ashikaga Yoshimasa im Jishōji-Kloster, in Kyōto (1489), über dessen japanisch gegliedertem Erdgeschoss sich wie ein Penthouse eine Buddha-Halle mit glockenförmigen Fenstern im chinesischen Stil erhebt. In den aufwendigen Audienzhallen des Kriegeradels der Momoyama-Zeit (1573 bis 1615) wird das mit lackierten Pfeilern und bemalten Schiebetüren luxuriös ausgestattete Studio-Arrangement schließlich zur Kulisse, vor der der Hausherr Hof hält.Erstaunlicherweise entfaltete sich parallel zum prunkvollen Wohnstil der Elite die aus dem Geist des Zen-Buddhismus geborene, karge Architektur des Teeraums. Der Teeraum (»chaseki«), der in separaten Teehäusern (»chashitsu«), aber auch im Haus installiert sein konnte, war in seiner von dem Teemeister Sen no Rikyū (* 1522, ✝ 1591) konzipierten und von dem Baumeister Kobori Enshū (* 1579, ✝ 1647) vollendeten Form das genaue Gegenteil der repräsentativen Palastarchitektur zeitgenössischer Herrscher. Der klassische Teeraum ist nicht größer als viereinhalb Strohmatten. Er ist gekennzeichnet durch eine nur gebückt zu passierende, niedrige Eingangstür, wenige, verschieden geformte Fenster, eine Bildnische, einen separaten Vorbereitungsraum mit Zwischenwand und eine Feuerstelle im Boden. Die Perspektive, aus der jedes Detail und der Blick in den Garten entworfen sind, rechnet mit der Wahrnehmung durch einen auf dem Boden hockenden Gast. Geflochtene Fenstergitter, unbehauene Holzpfeiler und der rohe Verputz der Lehmwände sind von rustikaler, dem Bauernhaus nachempfundener, aber bis ins Detail durchdachter Anspruchslosigkeit. Auch der Teegarten ist nicht Lebensraum, sondern erweckt die Vision einer vom Menschen unabhängigen, intakten Natur.Eine weitere Neuerung bringt am Ende des 16. Jahrhundert die Kombination ausgewählter Baustile in dem der Kurzweil dienenden, aristokratischen Wohnpalais des »eleganten Hauses« (»sukiya«). Der Studio-Raum wird jetzt einfacher gestaltet und der Ästhetik des Teeraums angeglichen. Die kaiserliche Katsura-Villa aus der Schule des Kobori Enshū ist das berühmteste erhaltene »Sukiya«-Haus. Auch ihr Garten ist ein Musterbeispiel des begehbaren Tee-oder Landschaftsgartens im Stil Enshūs. Vor drei im Zickzack angeordneten Hauptgebäuden breitet sich der Garten gleich einem Mikrokosmos aus. Über Brücken und Inseln, durch Wäldchen, Moosflächen und am Seeufer entlang führen mit Steinlaternen und Trittsteinen unterschiedlicher Form und Anordnung markierte Pfade zu versteckten Teehäusern. An jeder Biegung des Weges öffnen sich neue Blicke auf Szenerien, die der Naturlandschaft oder berühmten Ansichten Japans, wie sie etwa gemalte Bildern zeigen, nachgebildet sind. Die Gemeinsamkeit von Naturerfahrung und Malerei zeigt sich auch in der Hierarchie der Gartentypen: Sie können wie in der Tuschmalerei in ausführlicher, lockerer oder nur andeutender Weise gestaltet sein.Während der Edo-Zeit (1615 bis 1868) sollten normgebende Beschränkungen das Luxusstreben des Volkes unter Kontrolle bringen. Da die Maßeinheit der Tatami-Matten die Größe des Hauses bestimmte, war sie für den Bürgerstand kleiner bemessen als für den Adel. Dennoch kopierte das enge Bürgerhaus mit seinen ins Innere verlegten Galerien und winzigen Gärten den Wohnkomfort höherer Stände. Auch das Studio-Element mit der Bildnische wurde bald zum ästhetischen Mittelpunkt des Stadthauses und zeugte von Geschmack und Bildung seiner Bewohner. Die westliche Architektur des 20. Jahrhunderts wurde besonders vom Funktionalimus des japanischen Bauens inspiriert, von dessen ästhetischen und geistigen Grundlagen sie aber wenig übernommen hat.Prof. Dr. Doris Ledderose-Croissant
Universal-Lexikon. 2012.